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Wenn wir an revolutionäre Bewegungen der 1960er Jahre denken, stellen wir uns vielleicht Bürgerrechtsmärsche, Rockmusik oder die Mondlandung vor. Aber es gab eine andere, ruhigere Revolution – in Klassenzimmern und Gemeinden, in denen gehörlose Menschen eine Sprache nutzten, die nur wenige Außenstehende wirklich verstanden.
Hier kommt William Stokoe ins Spiel, ein hörender Linguist und Professor, der die gängigen Annahmen infrage stellte und bewies, dass die American Sign Language (ASL) eine echte Sprache ist – mit Grammatik, Syntax und einer Komplexität, die jeder gesprochenen Sprache ebenbürtig ist.
Seine Arbeit veränderte nicht nur die Linguistik. Sie prägte die Identität, Bildung und kulturellen Stolz gehörloser Menschen.
Wer war William Stokoe?
William Stokoe (ausgesprochen STOH-kee) war Professor an der Gallaudet University, dem einzigen geisteswissenschaftlichen College in den USA, das ausschließlich gehörlosen Studierenden vorbehalten ist. In den 1950er und 60er Jahren betrachteten die meisten – auch Pädagog*innen – die Gebärdensprache als eine grobe Nachahmung des Englischen, die korrigiert oder vermieden werden sollte.
Doch Stokoe sah etwas ganz anderes.
Mithilfe linguistischer Werkzeuge analysierte er ASL nicht als gebrochenes Englisch, sondern als ein eigenständiges, ausgefeiltes Kommunikationssystem. Seine radikale Idee? Dass Gebärdensprache nicht minderwertig, sondern gleichwertig ist.
Der Durchbruch: „A Dictionary of American Sign Language on Linguistic Principles“ (1965)
1965 veröffentlichten Stokoe und seine Koautorinnen Dorothy Casterline und Carl Croneberg ein bahnbrechendes Wörterbuch, das ASL mithilfe linguistischer Methoden dokumentierte. Es listete nicht nur Zeichen auf, sondern zerlegte sie in phonologische Komponenten wie:
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Handform
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Ort
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Bewegung
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(später erweitert um Handflächen-Orientierung und nicht-manuale Merkmale)
Das war revolutionär. Bis dahin war die Idee, eine visuell-gestische Sprache ähnlich wie Französisch oder Mandarin zu analysieren, praktisch unbekannt.
Stokoes Wörterbuch bewies, dass ASL:
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eine eigene Grammatik besitzt
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nicht nur Pantomime ist
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keine Ableitung des Englischen ist
Er prägte Begriffe, die heute noch verwendet werden, wie Cherologie (von „Cherem“, ähnlich Phonem, für Gebärdenglieder) und die Stokoe-Notation, ein Schriftsystem zur Beschreibung von Gebärden.
Warum Stokoes Arbeit so wichtig war
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Legitimierung von ASL als Sprache: Zum ersten Mal wurde die Muttersprache gehörloser Menschen ernsthaft erforscht.
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Veränderung der Bildung: Leitete den Weg für bilingual-bikulturelle (Bi-Bi) Ansätze in der Bildung gehörloser Menschen.
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Kulturelle Wirkung: Ermutigte die gehörlose Gemeinschaft, stolz auf ihre Sprache und Kultur zu sein.
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Inspiration für zukünftige Forschung: Öffnete Türen für gehörlose Linguist*innen und Wissenschaftler*innen, um ihre eigene Sprache zu erforschen.
Zu seiner Zeit war Stokoes Arbeit umstritten. Er wurde verspottet, von Kolleg*innen isoliert und ihm wurde gesagt, er verschwende seine Zeit. Heute gilt er als der Vater der modernen ASL-Linguistik.
FAQ
War William Stokoe gehörlos?
Nein. Stokoe war hörend, doch durch seine Arbeit wurde er ein leidenschaftlicher Fürsprecher für die Sprachrechte und Autonomie gehörloser Menschen.
Hat er ASL erfunden?
Nein. ASL gab es lange vor Stokoe – es ist eine natürliche Sprache, die sich in der gehörlosen Gemeinschaft entwickelte. Er hat sie dokumentiert und wissenschaftlich analysiert, wodurch sie formale linguistische Anerkennung erhielt.
Warum glaubte man früher nicht, dass ASL eine echte Sprache ist?
Weil sie visuell und gestisch ist, gingen viele davon aus, es handele sich um eine einfache oder „unterlegene“ Form des Englischen. Damals wurden in der Bildung gehörloser Menschen Sprechen und Lippenablesen oft priorisiert und Gebärdensprache wurde entmutigt.