Einleitung: Mehr als Kunst

Klang, Stille und Farbe
Was wäre, wenn Stille nicht leer wäre, sondern etwas anderes enthält? Eine leere Leinwand, die auf eine andere Art von Klang wartet – helle Farben, bewegte Hände und kraftvolle Blicke. Diese Welt zeigen uns gehörlose Künstler*innen. Zu lange wurde Kunst von gehörlosen Menschen nur dadurch besprochen, dass die Künstler*innen nicht hören konnten. Doch eine wichtige Bewegung begann, dies zu verändern, sie bietet eine tiefere Sichtweise, die über den Rahmen hinausgeht und ihre eigene Sprache spricht.
Was ist De'VIA?
Diese Bewegung heißt De'VIA, was für Deaf View/Image Art steht. De'VIA ist nicht einfach gehörlose Kunst von irgendeiner gehörlosen Person. Es ist eine besondere Art von Kunst mit einem klaren Ziel: Kunst zu schaffen, die zeigt, wie es ist, kulturell und körperlich gehörlos zu sein. Es ist Kunst von gehörlosen Menschen, die ihre einzigartige Kultur, ihre Herausforderungen, ihre Erfolge und ihre Sicht auf die Welt ausdrückt.
Was Sie lernen werden
Dieser Artikel nimmt Sie mit in die kraftvolle Welt von De'VIA. Wir erfahren, wie sie als Möglichkeit begann, dass sich die gehörlose Kultur selbst sichtbar macht, wir verstehen ihren besonderen visuellen Stil und lernen die wegweisenden Künstler*innen kennen, die sie geschaffen haben. Wir erkunden, wie die unterschiedliche Wahrnehmung der Welt über die Sinne die Ausdrucksweise der Künstler*innen tief beeinflusst und Werke entstehen lässt, die Aufmerksamkeit fordern.
Die Entstehung einer Bewegung
Ein Raum für Bedürfnisse
Um De'VIA zu verstehen, müssen wir die Situation kennen, aus der sie entstanden ist. Über Jahrhunderte wurde die gehörlose Erfahrung oft von hörenden Menschen erklärt, nicht von gehörlosen Menschen selbst. Diese Sichtweise, genannt Audismus, ist der Glaube, dass hörende Menschen besser seien als nicht hörende. In der Kunst bedeutete das, dass Werke gehörloser Künstler*innen häufig nach vorherrschenden Maßstäben beurteilt wurden, die ihren kulturellen Hintergrund nicht anerkannten oder wertschätzten. Gehörlose Künstler*innen brauchten ihren eigenen Raum – eine Möglichkeit, ihre wahren Erfahrungen auszudrücken, ohne sie übersetzen oder rechtfertigen zu müssen.
Die Erklärung von 1989
Diesen Raum schufen neun gehörlose Künstler*innen 1989 während der wichtigen Deaf Way International Conference and Festival. Sie waren sich einig, dass sie eine Kunstart offiziell definieren mussten, die speziell die gehörlose Erfahrung zeigt. Unter Führung von Persönlichkeiten wie Betty G. Miller, oft als „Mutter von De'VIA“ bezeichnet, und dem bekannten Chuck Baird, verfassten sie das De'VIA-Manifest. Dieses Dokument erklärte die Hauptideen der Bewegung und machte einen klaren Unterschied zwischen Kunst, die sich auf gehörlose Kultur konzentriert, und Kunst, die nur zufällig von gehörlosen Menschen geschaffen wurde.
Das Manifest erklärt, dass De'VIA „entsteht, wenn die Künstler*in beabsichtigt, ihre gehörlose Erfahrung durch visuelle Kunst auszudrücken.“ Es betont Themen wie den Kampf gegen Unterdrückung und die Feier der gehörlosen Kultur.
Widerstand und Feier
Diese beiden Ideen – Widerstand und Feier – wurden die Hauptbestandteile der De'VIA-Bewegung. Widerstands-Kunst fordert direkt den Audismus, die Sprachentzugserfahrung und die schmerzhafte Geschichte des Oralismus (das Erzwingen des Verzichts auf Gebärdensprache) heraus. Feiernde Kunst würdigt die Schönheit der Gebärdensprache, die Verbindungen in der gehörlosen Gemeinschaft und die Vielfalt der gehörlosen Kultur, oft „Deafhood“ genannt. Diese Themen bieten eine kraftvolle Perspektive zum Betrachten und Erschaffen gehörloser Kunst.
Die visuelle Sprache verstehen
Die Bewegung der Hände
Die American Sign Language (ASL) ist nicht nur eine Sprache; sie ist visuelle, bewegte Poesie. Ihre Grammatik existiert im dreidimensionalen Raum und nutzt Handformen, Position, Bewegung und Gesichtsausdrücke. De'VIA-Künstler*innen übertragen diese Bewegung gekonnt auf flache Leinwände. Man sieht das in der Anordnung ihrer Kompositionen, die den Gebärdenraum vor dem Körper spiegeln, in Pinselstrichen, die scharf oder fließend wie eine Gebärde wirken, und im wiederholten Einsatz von Handform-Mustern. In De'VIA ist die Hand nicht nur ein Motiv zum Malen; sie ist die Stimme, das Werkzeug und das Symbol der Identität.
Kräftige Farben, starke Gefühle
De'VIA ist selten zurückhaltend in der Farbwahl. Künstler*innen verwenden oft kräftige, kontrastreiche und manchmal unnatürliche Farben, um die Intensität der gehörlosen Erfahrung zu zeigen. Helles Gelb kann gehörlosen Stolz und Verständnis bedeuten, während kalte Blautöne oder Grau Einsamkeit und audistische Unterdrückung symbolisieren können. Symbole sind zentral für diese visuelle Sprache. Übergroße oder fokussierte Augen zeigen die größere Abhängigkeit vom Sehen. Verschlossene oder zugenähte Münder stehen für die Unterdrückung der Gebärdensprache. Abgetrennte oder verdrehte Ohren können die Ablehnung der hörenden Welt thematisieren, die das Nicht-Hören fokussiert. Das sind nicht nur Symbole, sondern das visuelle Vokabular echter Lebenserfahrungen.
Ein Vergleich
Um wirklich zu verstehen, was De'VIA einzigartig macht, hilft ein Vergleich, wie sie gängige künstlerische Konzepte umsetzt. Diese Tabelle zeigt, wie die Bewegung sensorische und literarische Ideen in rein visuelle Formen übersetzt und so einen klaren Einblick in ihre innovativen Methoden gibt.
| Konzept mainstream-Kunst | De'VIA Interpretation & Ausdruck |
|---|---|
| auditiver Rhythmus (in der Musik) | visueller Rhythmus (Wiederholung von ASL-Handformen, fließende Linien, die Gebärden nachahmen) |
| verbale Metapher (in der Literatur) | visuelle Metapher (übergroße Augen für Seh-Abhängigkeit, abgesperrte Münder für Unterdrückung) |

| Klanglandschaft | Bildlandschaft (Fokus auf Textur, intensive Farbkontraste und manipulierte Perspektiven, um ein volles sinnliches Erlebnis ohne Klang zu schaffen) |
Wichtige Künstler*innen
Chuck Baird: Visuelles Wortspiel
Chuck Baird (1947–2012) war ein Meister darin, ASL direkt in seine Kunst einzubringen und das zu schaffen, was als visuelles Wortspiel bezeichnet werden kann. Seine Werke erzeugen einen „Aha!“-Moment, wenn die Betrachter*innen plötzlich die Gebärde im Bild erkennen. In seinem bedeutenden Werk „Art No. 2“ zeigt die Komposition ein helles Malmesser, doch der leere Raum und die Form der Farbe auf der Leinwand bilden clever die ASL-Gebärde für „KUNST“. Wie Baird selbst sagte, war sein Ziel, ASL auf die Leinwand zu bringen. Seine Werke zeigen Sprache als Landschaft, eine perfekte Verschmelzung von Bedeutung und Form – ganz im Geiste von De'VIA.
Betty G. Miller: Kunst des Widerstands
Betty G. Miller (1934–2012) war die Pionierin. Ihre Arbeiten in den 1970er Jahren legten das Fundament für die De'VIA-Bewegung. Sie scheute sich nicht vor Schmerz und Wut der gehörlosen Erfahrung und schuf rohe, konfrontative Werke, die klar der Kategorie „Widerstand“ zugeordnet werden können. Ihr bekanntes Werk von 1972, „Ameslan Prohibited“ (Ameslan war ein früher Begriff für ASL), ist eine eindringliche und kraftvolle Aussage. Es zeigt Hände ohne Körper – ein Symbol für gehörlose Identität und Sprache –, die zerdrückt und gehalten werden, doch eine Hand bricht trotzig aus. Es ist ein Bild von Sprachunterdrückung und dem unbezwingbaren Geist einer Kultur, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt.
Nancy Rourke: Moderne Wegbereiterin
Nancy Rourke (geb. 1957) trägt die De'VIA-Flamme ins 21. Jahrhundert. Ihre Werke sind eine Explosion von Farbe und Energie, stark beeinflusst vom Fauvismus. Rourke konzentriert sich vor allem auf Feier-Themen, nutzt Primärfarben – Rot, Gelb und Blau – um ihre Philosophie des „Rourkeismus“ auszudrücken, die Deafhood und kulturellen Stolz in den Mittelpunkt stellt. Ihre Gemälde zeigen lebendige Szenen der gehörlosen Gemeinschaft, die Freude an gebärdeten Gesprächen und deutliche Kritik an Audismus. Ein Bild mit Figuren, die ihre Hände prominent zeigen und deren Gesichter lebendig und expressiv sind, feiert eine Welt, in der visuelle Kommunikation am wichtigsten ist.
Der Sinneswandel
Gehirnflexibilität und das Auge
Wie kann der Verzicht auf einen Sinn andere Sinne stärken? Diese Frage ist zentral zum Verständnis der einzigartigen Perspektive vieler gehörloser Künstler*innen. Das Konzept der Gehirnflexibilität bietet eine überzeugende Antwort. Das Gehirn ist bemerkenswert anpassungsfähig; wenn ein Sinnesweg nicht genutzt wird, kann das Gehirn diesen Bereich anderen Sinnen widmen. Forschungen legen nahe, dass bei einigen gehörlosen Menschen die visuelle Verarbeitung verbessert sein kann, zum Beispiel ein besseres peripheres Sehen und eine höhere Sensitivität für Bewegung und Muster. Dies ist keine Superkraft, sondern eine natürliche Umverteilung der Gehirnressourcen auf die visuelle Welt.
Von der Wahrnehmung zur Leinwand
Dieser Sinneswandel wirkt sich direkt auf die künstlerische Arbeit aus:
- Gesteigerte Detailwahrnehmung: Künstler*innen sehen und malen feine Unterschiede in Licht, Textur und Schatten, die anderen entgehen können. So entsteht eine reichhaltige, sehr detaillierte visuelle Welt.
- Verbesserte räumliche Wahrnehmung: Ein Leben lang die Welt visuell zu navigieren, entwickelt ein anderes Raum- und Kompositionsgefühl. Das führt oft zu dynamischen, unkonventionellen Bildausschnitten und meisterhaftem Umgang mit negativen Raum.
- Fokus auf nonverbale Kommunikation: Gehörlose Menschen sind Expert*innen darin, Gesichtsausdrücke und Körpersprache zu lesen. Diese Fähigkeit zeigt sich in De'VIA-Porträts, wo schon eine kleine Augenbrauenbewegung oder Spannung in der Schulter tiefste Gefühle und Geschichten vermittelt und das Wesen einer Person präzise einfängt.
Fazit: Ein bleibendes Vermächtnis
Ein Statement der Existenz
De'VIA begann 1989 als eine Aussage und hat sich seitdem zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. Es ist mehr als ein Kunststil; es ist ein Statement der Existenz. Durch kräftige Farben, symbolische Bilder und den bewegenden Rhythmus der Gebärdensprache haben De'VIA-Künstler*innen ihre Geschichte erzählt. Sie haben die Leinwand in eine Bühne für ihre Kultur verwandelt, erzählen Geschichten des Widerstands gegen eine Welt, die versuchte, sie zu „reparieren“, und feiern die tiefe Schönheit, die Welt durch die Brille gehörloser Menschen zu sehen.
Die Zukunft ist visuell
Das Vermächtnis von De'VIA zeigt das universelle menschliche Bedürfnis, auf eigene Weise gesehen und verstanden zu werden. Es fordert uns heraus, unsere Definition von Kunst zu erweitern und die vielfältigen sinnlichen Erfahrungen zu schätzen, die menschliche Kreativität prägen. Mit Blick auf die Zukunft bereichert die kraftvolle Arbeit der gehörlosen Kunstgemeinschaft weiterhin unsere gemeinsame Kulturlandschaft und erinnert uns daran, dass manche der tiefgründigsten Botschaften nicht gehört, sondern gesehen werden.