Im März 1988 brach an einer Universität in Washington, D.C. ein ungewöhnlicher Protest aus. Diese Bewegung war nicht bekannt für lautes Schreien, sondern für die kraftvolle, vereinte Stille und Gebärdensprache einer Gemeinschaft, die gehört werden wollte. Dies war Deaf President Now (DPN), ein historischer Bürgerrechtsprotest an der Gallaudet University, der die Geschichte gehörloser Menschen grundlegend veränderte. Der Protest entstand, weil der Vorstand der Universität eine hörende Person als siebten Präsidenten wählte und damit eine 124-jährige Tradition fortsetzte, bei der hörende Menschen die weltweit wichtigste Bildungseinrichtung für gehörlose Menschen leiteten. Der einwöchige, von Studierenden geführte Protest war ein großer Erfolg und führte zur Ernennung des ersten gehörlosen Präsidenten von Gallaudet. Noch wichtiger war, dass dies eine Unabhängigkeitserklärung der gehörlosen Gemeinschaft war – ein entscheidender Moment, der gehörlose Kultur als lebendige Identität zeigte und eine weltweite Bewegung für Selbstbestimmung und Behindertenrechte auslöste.
Gallaudet vor dem Aufstand

Der Protest Deaf President Now entstand nicht aus dem Nichts. Er war das explosive Ergebnis von über einem Jahrhundert angestauter Frustration. Um zu verstehen, was geschah, muss man zuerst die besondere Stellung der Gallaudet University kennen. Gegründet 1864 von Präsident Abraham Lincoln, ist sie die einzige Universität weltweit, die speziell für die Ausbildung gehörloser und schwerhöriger Studierender konzipiert ist. Sie ist ein globales Symbol für gehörlose Kultur, Sprache und Bildung.
Doch im Zentrum dieser Hochschule existierte ein ernsthafter Widerspruch. Die Verwaltung und der Vorstand waren historisch von hörenden Menschen kontrolliert, die mit einem paternalistischen Denken agierten. Dies ist der Glaube, so wohlmeinend er auch sein mag, dass hörende Menschen am besten wissen, was für gehörlose Menschen gut ist. Gehörlosigkeit wurde als Problem betrachtet, das verwaltet werden musste, statt als kulturelle Identität, die gefeiert werden sollte. Diese Denkweise durchdrang die gesamte Führungsebene der Universität und schuf eine unsichtbare Barriere, die gehörlose Fachkräfte sahen, aber nie durchbrechen konnten.
Keine gehörlose Führung
Das deutlichste Symbol dieses Paternalismus war gerade das Amt des Präsidenten. In den 124 Jahren bis 1988 hatte die Gallaudet University noch nie einen gehörlosen Präsidenten gehabt. Sechs hörende Männer hatten die Institution geleitet, was für eine Gemeinschaft, die an ihre eigenen Fähigkeiten und Unabhängigkeit glaubte, zunehmend inakzeptabel wurde. Generationen von Studierenden und Absolventen hatten sich für eine Leitungspersönlichkeit eingesetzt, die ihre eigenen Erfahrungen teilte und ihre Sprache und Kultur nicht als Schulfächer, sondern als Grundbestandteil ihres Lebens verstand. Die Forderung war einfach und kraftvoll: Vertretung auf höchster Ebene.
Der letzte Tropfen
1988 schien eine Veränderung möglich. Die Suche nach einem Präsidenten war auf drei Finalisten eingegrenzt worden: Dr. Harvey Corson und Dr. I. King Jordan, beide gehörlos, sowie Dr. Elisabeth Zinser, eine hörende Universitätsverwaltungskraft ohne fließende Kenntnisse in American Sign Language (ASL). Die Campusgemeinschaft war voller Vorfreude und unterstützte die beiden gehörlosen Kandidaten überwältigend. Man glaubte, dass die Zeit endlich gekommen war.
Am 6. März 1988 gab der Vorstand seine Entscheidung bekannt: Sie hatten Dr. Elisabeth Zinser ausgewählt. Die Reaktion war sofort und emotional. Die Entscheidung wurde nicht nur als verpasste Chance gesehen, sondern als tiefe Beleidigung – eine Erklärung, dass selbst an ihrer eigenen Universität eine gehörlose Person nicht als geeignet erachtet wurde, die Leitung zu übernehmen. Die Vorstandsvorsitzende Jane Spilman soll gesagt haben, „gehörlose Menschen seien noch nicht bereit, in einer hörenden Welt zu funktionieren“, eine Aussage, die, ob genau zitiert oder nicht, die paternalistische Haltung perfekt widerspiegelt, gegen die die Gemeinschaft kämpfte. Die Situation stand kurz vor dem Explodieren.
Eine Woche Protest
Die Entscheidung des Vorstands löste einen der effektivsten und breitest publizierten Bürgerrechtsproteste des späten 20. Jahrhunderts aus. Acht Tage lang blockierten Studierende, Ehemalige, Lehrende und Beschäftigte die Universität, übernahmen die Kontrolle über ihren Campus und ihr Schicksal.
| Tag / Datum | Wichtige Ereignisse |
|---|---|
| Tag 1: 7. März | Studierende ziehen zum Mayflower Hotel, wo der Vorstand tagte, und fordern eine Erklärung. Die Campus-Tore werden verschlossen, und die Gallaudet University wird offiziell von den Protestierenden geschlossen. Transparente erscheinen mit dem einfachen, kraftvollen Slogan: „Deaf President Now“. |
| Tag 2: 8. März | Die Studierendenführer treten hervor, und auf dem Footballfeld findet eine große Kundgebung statt. Nach ausführlichen Diskussionen bündeln die Protestierenden ihre Forderungen zu vier unverhandelbaren Punkten. |
| Tag 3: 9. März | Die Protestierenden bleiben standhaft, besuchen keine Kurse und öffnen den Campus nicht. Die nationale Medienberichterstattung intensiviert sich und rahmt den Protest als eindeutiges und überzeugendes Bürgerrechtsthema ein. Unterstützung strömt aus dem ganzen Land. |
| Tag 4: 10. März | Dr. Elisabeth Zinser, inzwischen in Washington, D.C. angekommen, kündigt an, trotz der Proteste ihr Amt antreten zu wollen. In einem Fernsehinterview tritt der Studierendenführer Greg Hlibok in der Sendung ABC’s Nightline auf und debattiert schlagfertig mit Jane Spilman. |
| Tag 5: 11. März | Der Wendepunkt. Unter massivem öffentlichem und politischem Druck und im Wissen, dass sie nicht effektiv regieren kann, kündigt Dr. Elisabeth Zinser ihren Rücktritt an. Der Campus bricht in Jubel aus, doch die Anführer erinnern alle daran, dass nur eine der vier Forderungen erfüllt ist. |
| Tag 6 & 7: 12.–13. März | Der Protest geht weiter, nun konzentriert auf die drei verbleibenden Forderungen. Studierende ziehen zum U.S. Capitol, und ihre Zahl wächst. Der Vorstand stimmt einem Treffen zu und gibt schließlich allen Forderungen nach. |
| Tag 8: 13. März (Sieg) | Der Vorstand kündigt offiziell den Rücktritt von Jane Spilman an, richtet eine Arbeitsgruppe ein, die eine gehörlose Mehrheit von 51 % im Vorstand erreichen soll, erklärt, dass keine Strafen gegen Beteiligte erteilt werden, und ernennt Dr. I. King Jordan zum achten – und ersten gehörlosen – Präsidenten der Gallaudet University. |
Die vier Forderungen
Die Klarheit und Fokussierung der DPN-Bewegung spiegelten sich in vier spezifischen, unverhandelbaren Forderungen wider, die zum Schlachtruf des Protests wurden:
- Der Rücktritt von Elisabeth Zinser und die Ernennung eines gehörlosen Präsidenten.
- Der sofortige Rücktritt von Jane Spilman, der Vorstandsvorsitzenden, die als Inbegriff des paternalistischen Vorstands galt.
- Die Umstrukturierung des Vorstands mit einer gehörlosen Mehrheit von 51 %, um sicherzustellen, dass zukünftige Entscheidungen von und nicht nur für die gehörlose Gemeinschaft getroffen werden.
- Kein Strafverfahren gegen Studierende, Lehrende oder Beschäftigte, die am Protest teilnahmen.
Nationales Interesse wächst
Der Protest war ein Lehrstück in Öffentlichkeitsarbeit. Die Botschaft der Studierenden war klar, ihr Verhalten friedlich, und ihre Sache unbestreitbar gerecht. Das Bild von Tausenden Studierenden, die still marschierten und mit Leidenschaft und Präzision ihre Hände sprechen ließen, war sehr kraftvoll. Große Nachrichtensender berichteten täglich. Unterstützung kam von Politikern, Gewerkschaften und Bürgerrechtsikone Jesse Jackson, der sagte: „Das Problem ist nicht, dass die Studierenden nicht hören. Das Problem ist, dass die hörende Welt nicht zuhört.“ Dieser bundesweite Fokus verwandelte ein Campus-Problem in eine landesweite Diskussion über Rechte, Zugänglichkeit und Diskriminierung.
Sieg und ein neuer Präsident

Der endgültige Sieg kam am Abend des Sonntags, 13. März. Der Vorstand hatte allen vier Forderungen zugestimmt und ernannte Dr. I. King Jordan zum Präsidenten. Vor der jubelnden Menge sagte Dr. Jordan einen Satz, der ikonisch wurde und die Kernüberzeugung der Bewegung ausdrückte: „Gehörlose Menschen können alles tun, was hörende Menschen können, außer hören.“ Der einwöchige Kampf war vorbei, doch seine Wirkung hatte gerade erst begonnen.
Stimmen der Bewegung
Obwohl DPN eine gemeinsame Anstrengung war, wurde die Bewegung von der bemerkenswerten Ruhe und strategischen Denkweise von vier Studierendenführern geleitet. Ihr Mut und ihre Sprachgewandtheit lenkten die weltweite Aufmerksamkeit auf den Campus der Gallaudet University.
Die Studierendenführer
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Greg Hlibok: Als neu gewählter Präsident der Studierendenvertretung wurde Hlibok zum wichtigsten Gesicht und zur Stimme des Protests. Ein geborener Führer, überzeugte er durch seine ruhige Art und die wortgewandte Kommunikation in ASL bei wichtigen Medienauftritten, darunter eine entscheidende Debatte in Nightline. Er vermittelte meisterhaft den Entschluss der Studierenden und die Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen.
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Tim Rarus: Ebenfalls ein Studierendenführer und ehemaliger Präsident der Studierendenvertretung brachte Rarus entscheidende Erfahrung in die Bewegung ein. Er hatte ein Semester freigenommen, um mit dem Suchkomitee für den Präsidenten zusammenzuarbeiten, und war mit den Schwächen des Prozesses vertraut. Seine strategischen Einsichten waren zentral für die Planung der täglichen Protestaktivitäten und Verhandlungen.
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Bridgetta Bourne: Eine kraftvolle Rednerin und Organisatorin, Bourne war maßgeblich daran beteiligt, die Studierendenschaft zu motivieren und das emotionale sowie historische Gewicht des Moments zu erklären. Ihre leidenschaftlichen Reden bei Kundgebungen auf dem Campus halfen, die Moral und den Fokus aufrechtzuerhalten, und erinnerten alle an die Generationen gehörloser Menschen, die von diesem Moment geträumt hatten.
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Jerry Covell: Bekannt für seine feurige Leidenschaft, war Covell ein zentraler Motivator, der half, den Protest zu starten. Seine emotionale Reaktion auf die Entscheidung des Vorstands spiegelte das kollektive Gefühl des Verrats wider und entfachte die erste Welle studentischen Handelns, die zur Schließung des Campus führte.
Die Stimmung auf dem Campus
Für alle, die während dieser März-Woche 1988 auf dem Campus waren, war die Atmosphäre elektrisierend. Es war ein gemeinsames Erlebnis von Ermächtigung und Zusammenhalt. Jahrzehntelange Frustration wurde in konstruktives, fokussiertes Handeln kanalisiert. Der Campus verwandelte sich in ein Zentrum des Aktivismus. Studierende gestalteten handgemachte Banner, die von jedem Gebäude hingen und ihre Forderungen sowie ihren Stolz ausdrückten. Die Sporthalle wurde zum Kommandozentrum, tagsüber und nachts gefüllt mit Studierenden, Lehrenden und Ehemaligen, die den nächsten Schritt planten. Die Märsche waren nicht von Lärm erfüllt, sondern von einer tiefgreifenden und kraftvollen visuellen Einheit. Es war klar spürbar, dass sie nicht nur für einen Universitätspräsidenten kämpften; sie schrieben Geschichte. Es war ein Moment kollektiver Selbsterkenntnis, eine Woche, in der die Gallaudet-Gemeinschaft der Welt zeigte, was es bedeutet, gehörlos und stolz zu sein.
Das nachhaltige Erbe von DPN
Die Ernennung von Dr. I. King Jordan war der unmittelbare Erfolg, doch das wahre Erbe von Deaf President Now ist die tiefgreifende Veränderung, die es im Bereich der Bürgerrechte, Kultur und Wahrnehmung bewirkte und die Gesellschaft bis heute, mehr als 37 Jahre später, prägt.
Katalysator für Gesetzgebung
Die DPN-Bewegung war eine kraftvolle, im Fernsehen übertragene Demonstration der systematischen Barrieren und Diskriminierungen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Sie gab dem Kampf um gleichberechtigten Zugang ein menschliches Gesicht. Die breite öffentliche Unterstützung und die eindeutige Gerechtigkeit der Forderungen der Studierenden gaben Befürwortern von Behindertenrechten bedeutenden Auftrieb bei der Lobbyarbeit für umfassende Bundesgesetze. Viele Historiker*innen und Aktivist*innen ziehen eine direkte Linie von den Ereignissen im März 1988 bis zum Inkrafttreten des wegweisenden Americans with Disabilities Act (ADA) im Jahr 1990. DPN zeigte, dass die Forderung nach Inklusion ein zentrales Bürgerrechtsthema ist und ebnete so den Weg für den umfassenden Schutz vor Diskriminierung in Beschäftigung, öffentlichen Dienstleistungen und Unterkünften durch das ADA.
Ein Wandel in der Identität
Vielleicht war die tiefgreifendste Wirkung von DPN psychologisch und kulturell. Es lehnte entschieden die langjährige, paternalistische Sichtweise von Gehörlosigkeit als medizinische Erkrankung oder Defizit ab, die bemitleidet oder „repariert“ werden müsste. Stattdessen stellte DPN das Konzept der Gehörlosenkultur in den Mittelpunkt. Es war eine kraftvolle öffentliche Erklärung, dass gehörlose Menschen eine sprachliche und kulturelle Minderheit mit einer reichen Sprache (ASL) und einem stolzen Erbe sind. Die Bewegung veränderte das Paradigma von „Menschen, die nicht hören können“ hin zu einer Gemeinschaft, die durch gemeinsame Erfahrung, Sprache und Identität verbunden ist. Dieser neu gewonnene Stolz und diese Selbstbestimmung stärkten gehörlose Menschen im ganzen Land und der Welt.
Der globale „DPN-Effekt“
Die Ereignisse an der Gallaudet blieben der internationalen Gehörlosengemeinschaft nicht verborgen. Die Nachricht über den erfolgreichen Protest verbreitete sich weltweit und inspirierte den sogenannten „DPN-Effekt“. Gehörlosengemeinschaften in anderen Ländern erkannten, was möglich war, und begannen, sich zu organisieren und für ihre eigenen Rechte einzutreten. Sie forderten gehörlose Führungspersonen in ihren eigenen Gehörlosenschulen, setzten sich für die offizielle Anerkennung ihrer nationalen Gebärdensprachen ein und kämpften für mehr Zugang und Inklusion in der Gesellschaft. DPN diente als Vorlage und Inspiration für gehörlosen Aktivismus weltweit.
Veränderungen an der Gallaudet
Der Sieg führte zu sofortigen und dauerhaften strukturellen Veränderungen an der Gallaudet University. Die wichtigste war die Erfüllung der Forderung nach einer 51% gehörlosen Mehrheit im Board of Trustees, eine Regelung, die bis heute gilt. Sie stellt sicher, dass die Leitung der Institution dauerhaft in den Händen von Menschen liegt, die ihre Mission von innen heraus verstehen. Nach DPN stieg die Anzahl gehörloser Personen in führenden administrativen und akademischen Positionen an der Gallaudet und anderen Bildungseinrichtungen deutlich an und durchbrach damit die zuvor bestehende gläserne Decke.
Mehr als ein Protest
Deaf President Now war weit mehr als ein Protest auf dem Campus wegen der Ernennung eines Präsidenten. Es war ein prägender Moment der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und eine Erklärung der Unabhängigkeit für die gehörlose Gemeinschaft. Es war der Höhepunkt von 124 Jahren stiller Frustration und der Beginn einer neuen Ära von Stolz und Selbstbestimmung. Die Studierenden und ihre Unterstützer*innen errangen nicht nur das Recht auf einen gehörlosen Präsidenten; sie erreichten eine grundlegende Veränderung darin, wie die Welt – und vor allem sie selbst – versteht, was es bedeutet, gehörlos zu sein.
Das Erbe von DPN ist nicht nur ein historisches Ereignis, das studiert wird; es ist eine fortwährende Botschaft, dass eine Gemeinschaft, wenn sie vereint und entschlossen ist, paternalistische Strukturen überwinden und ihren Platz am Tisch einfordern kann. Es ist ein Zeugnis der Kraft eines Volkes, das fordert, die Führung über sein eigenes Schicksal zu übernehmen – und bewies, dass das einzige Wort, das sie nicht hören konnten, „nein“ war. Der stille Protest von 1988 hallt bis heute laut nach und ist eine zeitlose Lektion in Ermächtigung, Identität und dem unermüdlichen Streben nach Gerechtigkeit.